Ursprung und Entwicklung des Schleikens
Wie weit die Hausbesuche des St. Nikolaus in Kägiswil zurückgehen, ist nicht bekannt. Zwei der ältesten Personen, eine Frau und ein Mann, beide Jahrgang 1925, die im Spätherbst 2008 den zugesandten Fragebogen ausfüllten, wurden im Alter von etwa 4 Jahren zu Hause von einem St. Nikolaus im Bischofsgewand, begleitet von einem Schmutzli, besucht. Die Frau schreibt, St. Nikolaus habe Lebkuchen, Nüsse und Äpfel gebracht. Der Schmutzli sei eine grausige Gestalt gewesen. Die männliche Person erinnert sich, Nüssli und Lebkuchen erhalten zu haben. Der Schmutzli habe fürchterlich ausgesehen.
Gestützt auf die beiden oben erwähnten Personen mit dem Jahrgang 1925 kann angenommen werden, dass es das Schleiken in Kägiswil schon vor 1930 gab. Die Hausbesuche sind offenbar unter Kaplan Sigrist von der Jungmannschaft durchgeführt worden.
Als Kägiswil in den 1940er Jahren einen neuen Kaplan erhielt, hat dieser das Schleiken, bei welchem auch getrinkelt wurde, verboten, weil es nichts mit der Kirche zu tun habe und die Jungmannschaft auf Abwege bringe. So wurden die Hausbesuche in Kägiswil für einige Zeit eingestellt. Das wollten verschiedene Leute auf die Dauer nicht hinnehmen. Sie nahmen mit Mitgliedern der Jungmannschaft in Alpnach, welche dort das Schleiken und Trinkeln unter sich hatte, Kontakt auf. Man versprach den jungen Leuten, gratis Essen und Trinken zu geben, wenn sie einen kleinen Abstecher über die Grenze nach Kägiswil machen und eine halbe Stunde lang um das Haus des Kaplans trinkeln würden. Die Alpnacher Trinkler akzeptierten das Angebot. Ein damals noch sehr junger Nachbar des Kaplans hat heute noch das Bild vor Augen, wie dieser am offenen Fenster stand und den Trinklern vergeblich Einhalt gebot. Der Kaplan erlaubte dann ein oder zwei Jahre später das Schleiken und Trinkeln wieder.
Ende 1953 verliess er die Kaplanei. Kägiswil wurde in der Folge bis 1954
von Aushilfegeistlichen betreut. Weil sich offenbar niemand mehr für das
Schleiken verantwortlich fühlte, wurde es 1954 von der gleichen Gruppe
organisiert, welche den ersten St. Niklauseinzug durchgeführt hatte und
aus welcher später das
Schleiken 1954
Der Chronist der ersten Tage des St. Niklauskomitees schrieb über die Hausbesuche des St. Nikolaus im Jahre 1954 Folgendes: „[...] die Kinderbescherung spielte sich im gewohnten Rahmen ab, nur mit dem Unterschied, dass unser hl. St. Niklaus hier in Kägiswil zum ersten Mal mit einem VW in seiner himmlischen Kleidung den guten und bösen Kindern nachfuhr und seine Geschenke austeilte.
Am Sonntagabend besuchten wir die Häuser im Dörfli und zu einem guten Teil auch in der Kreuzstrasse. Begreiflicherweise war es für den heiligen Mann und die beiden schwarzen Begleiter hie und da schwer, ihre Würde zu bewahren, wenn ihnen in jedem Haus zur Stärkung auf ihrem beschwerlichen Weg ein Kaffee nach Obwaldnerart serviert wurde. Nun, auch sie hatten harte Naturen und setzten am folgenden Abend pünktlich ihren Weg fort, besuchten die restlichen Häuser in der Kreuzstrasse und fuhren anschliessend per Auto auf den Berg, gefolgt von einem Jeep, vollbeladen mit Trinklerbuben. Es wurde ziemlich spät, als wir unsere Reise im „Eggeli“ endlich beendigen konnten.“
Hausbesuch in den 50er Jahren
Ein Schmutzli, der im Jahre 1954 in Kägiswil St. Nikolaus beim Schleiken begleitete und als Kind selber vom St. Nikolaus besucht wurde, erzählt: „Das Trinkeln kam immer näher, und die Angst wurde immer grösser.“ Laut seinen weiteren Aussagen trat der St. Nikolaus der Grossen stets als Bischof mit Stab, Inful und einem Buch auf. Er wurde von einem oder zwei Schmutzli mit Rute und Rückenkorb begleitet. Die Schmutzli waren mit Russ aus dem Feuerloch gebrämt. Die Hausbesuche liefen damals in der Regel wie folgt ab:
St. Nikolaus polterte die Treppe hoch. Der Schmutzli schlug mit der Rute an die Wand oder an das Fenster, damit die Kinder es im Hause hörten. Damals wollte man bewusst Angst machen. Es ging nicht so brav zu und her wie heutzutage. Man musste die Kinder ein wenig in den Senkel stellen. Es gab damals viele Familien mit acht und zehn Kindern. Da waren die Eltern manchmal froh, wenn hie und da jemand kam, der ihnen geholfen hat, die Kinder auf dem rechten Weg zu halten.
St. Nikolaus trat dann ins Haus und grüsste, wie das heute noch der Fall ist. Der Schmutzli war eher im Hintergrund. Die Kinder wurden hergerufen und aufgefordert, ein Sprüchlein aufzusagen. Dann gab es Lob und Tadel für das Verhalten während des Jahres. Die Informationen über Lob und Tadel standen auf einem Zettel, den die Eltern vorbereitet hatten. St. Nikolaus hatte diesen in sein grosses Buch gelegt, das er in der Stube öffnete. „Bösen“ Kindern gab man mit der Rute eins auf den Hintern. Es war eher selten, dass jemand in den Sack gesteckt wurde.
Wenn ein Kind lachte oder zeigen wollte, dass es keine Angst hatte, musste der Schmutzli sofort auf den Tisch schlagen und das Kind zurechtweisen. Schliesslich wurde der Sack mit den Nüssen, Lebkuchen usw. ausgeleert. Im Sack waren jene Sachen, welche die Eltern vor dem Haus bereitgelegt hatten.
Bevor St. Nikolaus das Haus verliess, erhielten er und der Schmutzli an vielen Orten in der Küche oder im Treppenhaus ein Schnäpschen, ein Glas Wein oder einen Kaffee. Es gab natürlich auch ein wenig Geld, etwa zwei Franken, manchmal gar drei Franken oder ein Fünffrankenstück. Das war dann aber für die damaligen Verhältnisse ausserordentlich viel.
Auswertung des Fragebogens über den St. Nikolausbesuch
Von den rund 70 Fragebogen, die an ältere, in Kägiswil aufgewachsene
Personen versandt wurden, erhielt ich 29 ausgefüllt zurück. Von diesen
29 Personen mit den Jahrgängen 1924 bis 1944 wissen die meisten nicht,
ob es zur Zeit ihrer Eltern und Grosseltern in Kägiswil schon Hausbesuche
des
Es zeigt sich auch, dass die erste Begegnung mit St. Nikolaus in den meisten Fällen zu Hause stattfand. Nur wenige gaben an, sie hätten ihn in der Schule zum ersten Mal gesehen. Die Mehrheit erlebte den ersten St. Nikolausbesuch im Alter von vier bis sieben Jahren. Bei neunzehn Befragten kam St. Nikolaus mehr als einmal vorbei, bei zwei Befragten überhaupt nie.
In der Regel wurde St. Nikolaus von einem oder zwei Schmutzli begleitet.
Er trat aber nicht immer in leibhaftiger Gestalt auf. Manchmal machte
er sich nur durch Gepolter und Klopfen bemerkbar. Er legte seine Geschenke
vor die Tür und verschwand ungesehen. Diese Version des St. Nikolausbesuchs
wurde fünfmal erwähnt. Zwanzig Befragte gaben an, dass sie später erfahren
haben, wer sie damals als
Die meisten Kinder hatten sowohl Angst als auch Freude vor dem St. Nikolausbesuch. In einer Familie haben die Kinder schon lange vorher jeden Abend darum gebetet, dass sie von St. Nikolaus besucht werden. Die Mehrheit fürchtete sich nicht vor St. Nikolaus, sondern vor dem Schmutzli. Jemand bemerkte, man habe ja so viele Schauergeschichten über den Schmutzli gehört. Eine andere Person schrieb vom Schmutzli: „Er war der ‚Teufel’, der drohte und schimpfte.“
Die meisten Eltern drohten damals den Kindern mit dem St. Nikolaus. Sehr oft wurde mit der Rute oder dem Sack gedroht, aber nur zwei Personen gaben an, dass sie oder ihre Geschwister vom Schmutzli wirklich mit der Rute geschlagen worden seien. Hingegen vermerkten sieben Befragte, dass man sie selber oder einen Bruder in den Sack gesteckt habe.
Ein Kägiswiler berichtete, er habe damit gerechnet und ein Sackmesser in der Hosentasche bereitgehalten. Vor dem Haus sei es ihm dank des Messers gelungen, sich aus dem Sack zu befreien und in die Finsternis zu entweichen. Er habe sich schon als Bub vor nichts gefürchtet.
Eine Kägiswilerin erwähnte, ihr Bruder habe sich erfrecht, vor dem St. Nikolaus zu lachen. Da habe ihn der Schmutzli gepackt und ihm befohlen, auf den Boden zu knien und ein Vaterunser zu beten. Damals habe jeder Schüler das Vaterunser auswendig beten können. Der Bruder sei aber so verdattert gewesen, dass er nicht über die Worte „Vater unser“ hinaus gekommen sei.
Eine andere Frau teilte mit, der Schmutzli habe bei ihnen zu Hause in der Stube derart wild auf den Fussboden gestampft, dass alles wackelte und der Pflanzenständer umfiel, so dass alle Pflanzen samt der Erde auf dem Boden verstreut waren. Da seien sogar St. Nikolaus und Schmutzli erschrocken.
Erstaunlicherweise war die Mehrheit der Meinung, Lob und Tadel seien von St. Nikolaus in gerechtem Masse angewandt worden. Nur sieben Personen erklärten, der Tadel habe Vorrang gehabt.
Ein Kägiswiler wusste jedoch von einer krassen Fehlleistung von St. Nikolaus
zu erzählen. Er war damals gut zehn Jahre alt. Die Mutter, die jüngeren
Geschwister, Verwandte und Bekannte waren in der Stube.
Ausser zwei Personen waren alle der Ansicht, dass sich die Hausbesuche
seit ihrer Kinderzeit gewandelt hätten. Man meinte etwa, früher sei die
St. Nikolausfigur als Erziehungshilfe missbraucht worden. Man habe ihr
zum Beispiel aufgetragen, den Kindern das Daumenlutschen abzugewöhnen.
Die Kinder hätten damals vor St. Nikolaus Angst gehabt, heute einfach
Respekt. Aus dem autoritären, distanzierten
Es ist sicher auch interessant zu wissen, dass von den befragten Personen niemand vermerkte, dass sie von St. Nikolaus Spielsachen erhalten hätten. Sie bekamen in früheren Zeiten Nüsse, Äpfel, Dörrbirnen, Feigen, Lebkuchen, Chräpfli, Hefegebäcke (Vögel, Grittibänzen), später auch Mandarinen, Nüsschen, Datteln, Willisauer Ringli und Schokolade. Eine Befragte erhielt Pantoffeln. St. Nikolaus liess auch fast immer eine Rute zurück.
Im Jahre 1936 beschrieb eine Kägiswiler Fünftklässlerin den Hausbesuch von St. Nikolaus unter dem Titel „Eine liebe Erinnerung“ folgendermassen:
„Es war vor vier Jahren. Ich erinnere mich noch gut. St. Nikolaus kam am Abend. Es war ein bitterkalter Winterabend. Die Mutter glaubte, es sei für St. Nikolaus zu kalt auf der Strasse. Wir hätten ihn aber doch gerne empfangen. Gebetlein und Sprüchlein hatte uns die Mutter gelehrt.
Da, horch! Auf einmal hörte man an der Haustüre klopfen. Man öffnete,
herein trat der liebe
Die Schülerin hat den Aufsatz mit dem Bild eines Weihnachtsmannes illustriert, wie sie damals wohl auf gekauften Lebkuchengebäcken zu finden waren.
Auffällig ist, dass St. Nikolaus nicht von Trinklern angekündigt wurde und ihn offenbar auch kein Schmutzli begleitete. Das könnte dafür sprechen, dass kein offizieller St. Nikolaus, sondern der verkleidete Vater oder ein Nachbar auf Besuch kam. Laut den Fragebogen war dies gar nicht so selten der Fall. Hinter der St. Nikolausfigur konnte sogar eine weibliche Person stecken.
Eine 80-jährige Frau schilderte zwei Erlebnisse, welche ihr so geblieben sind, als wären sie gestern geschehen. Beim ersten St. Nikolausbesuch war sie sicher nicht älter als fünfjährig: „Ich sass auf dem Schoss von Papa. Als St. Nikolaus kam, schlüpfte ich unter Papas Pullover und guckte oben aus dem Kragen hinaus. Ich fühlte mich so geborgen unter dem Pullover!“
Das andere Erlebnis war von schlechter Art. Nach diesem kam nie mehr ein St. Nikolaus in ihr Elternhaus, und sie sorgte auch dafür, dass ihre Kinder nie so etwas erleben mussten. Die Schreiberin und ihr Bruder waren etwa im Kindergartenalter. Der Samiglais kam als Gestalt in einem roten Gewand. Der Schmutzli aber sah grässlich aus. Er war mit einem Kittel bekleidet, hatte schwarze Zähne und schwarzes Rosshaar unter seinem Hut. Auf der Schulter trug er einen Sack, aus dem zwei ausgestopfte Beine hingen. Er fuchtelte mit einer Rute und einer Kette herum und wollte den Bruder mitnehmen. Das war für sie beide schrecklich.
Später erfuhren die Kinder, dass es sich um einen der Lehrlinge und seinen Kollegen gehandelt hatte. „Die waren damals selber noch jung und konnten kaum abschätzen, was ihr Auftritt für uns bedeutete. An einem schönen St. Nikolaus hatte ich später trotzdem immer Freude.“